Nachtruhe by Simone Dorra

Nachtruhe by Simone Dorra

Autor:Simone Dorra [Dorra, Simone]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Silberburg
veröffentlicht: 2016-01-05T00:00:00+00:00


VOM SCHWEIGEN UND VOM VERGESSEN

»Zwölf Prozent der Jugendlichen, die im Rahmen einer Studie 2013 befragt worden sind, geben an, dass sie schon einmal im Internet gemobbt worden sind.«

Melanie Brendel ging vor der Tafel an der Stirnseite des Klassenzimmers langsam auf und ab. Eine Leinwand hing davor, und der summende Overhead-Projektor warf die bunten Balken der Statistik auf den grellweißen Hintergrund. Es war sehr warm, und Malte Jacobsen, der allein an einem Tisch in der Nähe des Fensters saß, unterdrückte ein Gähnen. Er hatte sich neben der Klassenlehrerin niedergelassen und gleichzeitig strategisch so platziert, dass er Susanne Steffens im Auge behalten konnte; sie saß sehr still, den Kopf gesenkt. Es war unmöglich zu erkennen, ob sie zuhörte.

»Was glaubt ihr, wo Mobbing anfängt?«

Seine Kollegin ließ ihren aufmerksamen Blick über die Gesichter der Kinder wandern.

Obwohl Sechzehnjährige wohl kaum noch Kinder waren, dachte Jacobsen.

Die Mädchen stylten sich hier in Backnang mindestens ebenso wie die Mädchen in Hamburg, trugen sorgfältiges Make-up und machten sich offenbar viele Gedanken über ihre Kleidung. Susanne stach mit ihrem straffen Haarzopf, dem bleichen, verschlossenen Gesicht und der senffarbenen, langärmeligen Bluse zwischen ihnen heraus wie eine Brennnessel in einem Blumenbeet.

»Da, wo mr auf Facebook ebbes über jemand schreibt, was net wohr isch.«

Ein Junge, halb rechts von ihm. Wache Augen, weiche, blonde Haarflusen.

»Zum Beispiel.« Melanie Brendel nickte. »Und wieso ist es wohl leichter, im Netz zu mobben als im real life? Was glaubst du?«

»Weil …« Der Junge zögerte. »Weil mr den, den mr da mobbt, net drbei angucke muss?«, schlug er vor. »Und weil der oin au net sieht?«

»Stimmt.« Sie lächelte leicht. »Wenn ich den, den ich kränke und beleidige, dabei direkt vor mir habe, wird es schwieriger. Anonym Gift zu spritzen macht weniger Mühe … und scheinbar auch mehr Spaß. –Hat jemand von euch schon Erfahrung mit Internet-Mobbing gemacht?«

Zwei Mädchen neben Jacobsen steckten die Köpfe zusammen und flüsterten; eine der beiden, rothaarig und ausgesprochen hübsch, deutete verstohlen mit dem Kinn zu Susanne hinüber. Die rührte sich nicht.

»Niemand?« Melanie Brendel hob die Augenbrauen. »Wie ausgesprochen … paradiesisch.«

Sie schaltete den Overhead-Projektor aus.

»Mobbing heißt nicht nur, Dinge zu behaupten, die nicht wahr sind. Es kann auch bedeuten, ein Bild zu posten, auf dem ein Mädchen schlecht geschminkt ist oder in einem bestimmten Top so aussieht, als wäre sie doppelt so dick wie normal. Und drunter steht dann: ›Die hässliche Bitch‹ oder ›Fette Sau‹. Oder da hat jemand ein bisschen heftig gefeiert und findet sich am nächsten Tag auf Facebook wieder, wie er volltrunken in irgendeinem Partykeller in der Ecke liegt.«

Wieder ließ sie den Blick über die Gesichter schweifen.

»Das Internet vergisst nichts«, fuhr sie fort. »Keine Bemerkung, keine Verleumdung, keine Unterstellung. Und keine – Geschichten.«

Jacobsen konnte die wachsende Anspannung in der Klasse fast körperlich spüren. Jetzt hatte seine Kollegin die Aufmerksamkeit aller, scheinbar bis auf die von Susanne. Das Mädchen starrte vor sich auf den Tisch.

»Was sollte man eurer Ansicht nach tun, wenn man bemerkt, dass jemand gemobbt wird und wenn man sogar vielleicht weiß, wer es tut?«

»Vielleicht … mit dem schwätze?« Zögernd reckte sich ein Finger nach oben.



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